Als erstes bekam ich Hausschuhe angeboten

Seite gestern der Eingang zu meinem Zuhause: Asylunterkunft in Rickenbach TG.

Dienstag, 6. November, sechs Minuten nach neun Uhr: Ich bin eingezogen. Einen Monat lang wohne ich nicht mit meinen zwei Schweizer Kollegen, sondern mit vier Sri Lankern, drei Afghanen und einem Georgier. Einen Monat lang schlafe ich nicht in meinem 160-mal-200-Zentimeter-Bettgestell, sondern in der dritten Etage eines 15-Mann-Kajütenbetts (allerdings nur zu viert).

Ernst Bucher, Leiter des Sozialamts der Gemeinde Rickenbach, drückt mir frisch gewaschene Bettwäsche in die Hände und wünscht mir einen guten Aufenthalt. Von den Asylsuchenden werde ich mit grosser Herzlichkeit aufgenommen. Als erstes erhalte ich Hausschuhe angeboten: Weil meine noch im Rucksack sind, meint Hamid aus Afghanistan, ich solle doch seine nehmen, er habe noch ein zweites Paar. Mit meinem «Danke, das ist sehr lieb, aber…» komme ich nicht weit. Ich werde sie ihm heute mit einem Händedruck zurückgeben.

Am Abend um zehn Uhr kehre ich zurück von der Arbeit. Mit Krishnan aus Sri Lanka schaue ich einige Minuten eines indischen Billig-Action-Films. Die Sprache verstehe ich nicht, die Handlung schon. Die Sri Lanker fragen, ob ich «already had dinner». Ja, sage ich, ich habe länger arbeiten müssen und dort etwas gegessen. «But tomorrow you will eat with us?» Ja, werde ich, wenn ich zeitig fertig werde. Wann wird denn gegessen? «It depends. Maybe 8 or 9 or 10 o’clock», sagt Satish und fragt: «What food do you eat in the evening?» – «It depends.»

Dann, es ist bereits Mitternacht, gibt mir Lasha aus Georgien einen mit Youtube-Videos illustrierten Crashkurs in georgischer Politik. Ich sehe Blutlachen, Maschinengewehre, einen Präsidenten auf Drogen. Keine Gutenachtgeschichte – ich bringe ihm bei, dass ich das sehr wohl sehr interessant finde, aber lieber morgen. Ich melde mich ab. «Guet Nacht – good night guys.»

Geschrieben am: 07.11.2012
Kommentare: 27 Kommentare.
Comments
Comment from regenwart - 7. November 2012 at 12:24

Das klingt nach einem intensiven Start. Weisst du, wie das mit dem Essen organisiert wird? Geht jeder für sich selbst einkaufen und am Abend kocht man zusammen? Oder werden Lebensmittel zur Verfügung gestellt? Wahrscheinlich gibt das ein kulinarisches Abenteuer…

Comment from mario - 7. November 2012 at 12:28

In der Tat, das war er. Die Asylsuchenden haben einen bestimmten Betrag pro Monat für Lebensmittel zur Verfügung. Der alterneriende Zimmerchef kauft für alle ein, am Mittag wird gemeinsam gekocht und gegessen. Am Abend, so ich das gestern richtig verstanden habe, kochen die Männer aus Sri Lanka und jene aus Afghanistan separat das, was sie aus ihrer Heimat kennen. Ich freue mich demnach auf kulinarische Neuentdeckungen.

Comment from Simon - 7. November 2012 at 14:43

Coole Aktion wünsche dir viel Spass. Das Essen wird wahrscheinlich der Hammer sein. Gruess us Beijing

Comment from Manu - 7. November 2012 at 17:33

Ich wünsche Dir eine gute Zeit wir werden uns hoffendlich mal beim Mittagessen treffen.

Comment from Natalie - 7. November 2012 at 18:21

Sehr spannend, werde deinem Blog interessiert folgen. Gutes Einleben!

Comment from Grosi - 7. November 2012 at 19:47

Ui, ha lieber Härdöpfel! Machs Guet. Bi ganz gspannt uf dä nöchscht Pricht.

Comment from gehrken Theres - 8. November 2012 at 12:07

interessant, gruss Theres

Pingback from Zürcher Presseverein » Ein Monat im Kajütenbett - 8. November 2012 at 13:25

[…] Internet gibt, will er im Asylblog regelmässig über seine Erlebnisse und Bekanntschaften bloggen. Der erste Beitrag beschreibt den Einzug in die Anlage: Ernst Bucher, Leiter des Sozialamts der Gemeinde Rickenbach, […]

Comment from Mike - 8. November 2012 at 16:31

Wer bezahlt Deinen Aufenthalt?

Comment from mario - 8. November 2012 at 17:07

Ich selbst.

Comment from Xaver - 9. November 2012 at 12:10

Ein interessantes Experiment. Frage mich allerdings, wie repräsentativ die Belegung dieser Unterkunft mit nur 8 bzw. mit Ihnen 9 Leuten ist. Sind da wirklich nicht mehr drin?
„Die Asylsuchenden haben einen bestimmten Betrag pro Monat für Lebensmittel zur Verfügung.“: Fände es interessant, möglichst viele konkrete Zahlen zu erfahren, dann kann man sich als Outsider besser vorstellen, wie der Alltag dieser Asylbewerber ist. In welchen Läden kaufen sie ein? Welche Linien kaufen sie ein; das Meiste von M-Budget/Prix Garantie oder auch mal ein „Luxusprodukt“?
Auch interessant wäre zu erfahren, ob es für den Autor/Experimentator generell das erste Mal ein längerer Aufenthalt in einem Bunker ist oder ob er auch in WK, RS, Zivilschutz schon Wochen oder Monate in Bunkern war? Ich war den grössten Teil der RS in Bunkern und das hat mir eigentlich für den Rest des Lebens gereicht (klar, im Kriegsfall oder als Asylbewerber würde ich schon nochmals in eine Bunkerunterkunft). Das mit den Hausschuhen hat den simplen Grund, dass der Mief und die Hygiene in Bunkern trotz Klimaanlage meistens ein Problem ist, besonders bei Vollbelegung wie im Militär. So miefts von den Schuhen dann nur beim Eingang etwas mehr, nicht in der ganzen Anlage. Wir mussten allerdings unsere eigenen Hausschuhe mitbringen (bekamen dafür sonst ziemlich viel Karumpel).
Bin gespannt, wie es weitergeht. Finde ich jedenfalls besser, als das Sesselfurzen, Internetsurfen und Copy-Pasten, das heute in den meisten Redaktionen der Alltag der Journalisten ist. Ein Journalist muss dort hin, wo etwas passiert!

Comment from Carsten - 9. November 2012 at 13:30

Tolle Idee, wenn auch traurig, dass man so etwas erleben muss in Deutschland.

Comment from Janine Yvette - 9. November 2012 at 14:20

Wann geht’s denn endlich weiter. I’m waiting!

Pingback from Asylblog – Ein Journalist. Ein Monat. Eine Asylunterkunft. - 9. November 2012 at 15:59

[…] auf dem Bauch. Er strahlt mich an und sagt: «Heute ist eine gute Tag». Er habe mir doch gestern vom umstrittenen Präsidenten erzählt. Heute nun, sagt er, «es ist etwas passiert»: Der ehemalige Minister für Strafvollzug sei […]

Comment from hempele - 10. November 2012 at 12:55

Es steht jedem das Recht zu sich mit journalistischen Problemen auch einseitig zu beschäftigen. Ich würde Mario Fuchs den Rat geben, sich im Herkunftsland schon bei der Rekrutierung der Wirtschaftsflüchtlinge vor Ort sich zu orientieren. Denn gerade hier liegt der wunde Punkt, im organisierten Menschenhandel, Mitfinanzierung der Rebellen/Aufständigen vom gelobten Land Schweiz bis hin zu Erpressungsgelder mit intern. bestens organisierten Agenturen. Ich bin nicht erst 24 Jahre alt, sondern habe seit Jahrzehnten hinter den Kulissen mich mit diesen Problemen beschäftigt. So bin ich zur Einsicht gekommen, dass das heutige Asylsproblem in keiner Art und Weise mit den Zeiten des 1. und 2. Weltkrieges verglichen werden kann. Mit offenen Augen kann festgestellt werden, sofern überhaupt aus journalistischen Seiten ein Bedarf vorliegt….., dass es in unserem Land viele Bewohner gibt, die ihr sehr primitives Zuhause mit Asylunterkunft schon heute nicht erst morgen tauschen würden. Ganz abgesehen der finanziellen Unterstützung im Vergleich mit AHV-Rente, etc.

Comment from mario - 10. November 2012 at 18:56

@Hempele: Dass die Problematik nicht erst im Einreiseland beginnt, darin sind wir uns wohl alle einig. Als Journalist einer Lokalzeitung interessiert mich aber vor allem das, was vor der Haustür passiert. Das ist zwar logischerweise subjektiv, aber nicht einseitig. Dass es auch Schweizer Journalisten gibt, die an die Grenzen reisen, hat zum Beispiel Kaspar Surber bewiesen (http://www.echtzeit.ch/buecher.php?id=224).

Comment from uno. - 10. November 2012 at 18:29

andere gehen in die Ferien und der eine hat wohl immer. sag mir doch einmal, warum du bis 10 Uhr arbeitest, wenn schon um 9.30 Uhr Druckbeginn ist. Bist wohl ein Workaholiker?

Comment from mario - 10. November 2012 at 18:39

@uno.: Zu den Pflichten eines Lokalredaktoren zählt auch, gewisse Abendtermine wahrzunehmen.

Comment from debi - 10. November 2012 at 23:42

tolle sache, mario. werde deinen blog mit spannung vefolgen. take care.

Comment from Meret - 12. November 2012 at 22:55

Super Sache! Interessantes Experiment und flotter Schreibstil. werde ich auf jeden Fall weiterverfolgen. 🙂

Comment from Isabelle - 13. November 2012 at 14:20

Gute Idee, Mario! Ich bin aber relativ skeptisch, was dein Projekt erreichen wird. Bis jetzt lese ich vor allem vom Abendprogramm und was DU tust, anstatt was die Nothilfebezieher den ganzen Tag durch tun. Du willst doch die Realität nach aussen bringen und dich in ihre Situation hineinversetzen und fühlen, was sie fühlen. Dann müsste dein Blog aber eher über die Personen berichten und ihre Situation, du müsstest sie als Journalist also den ganzen Tag begleiten und mit ihnen sprechen. Ausserdem hast du im Vergleich zu vielen aus der Zivilschutzanlage einen Job tagsüber und du kannst gar nicht nachvollziehen, wie sich diese Leute fühlen müssen. Ich fände es wichtig, dass du auch solche Aspekte berücksichtigst.
Das fehlt mir bis jetzt vollständig und finde ich sehr schade an deinem Blog. Sonst im Generellen eine gute Idee!

Comment from Milad - 13. November 2012 at 16:40

So lobenswert der Selbstversuch auch sein mag, so wenig kann er wiedergeben, was ein Asylsuchender durchlebt.

Es beginnt bei der Sprache, mit der Sie sich ausdrücken können und geht über Ihre bereits vorhandenen sozialen Kontakte, bishin zur Gewissheit, dass Sie jederzeit aus dem Raum ausbrechen könnten. Das Austrittsdatum ist festgelegt. Sie also können genau datieren, wann ihr Leben im Heim beendet sein wird.

Mehr als Abenteurcharakter kann man dem also nicht zusprechen. Interessanter wäre doch: Der Besuch regelmäßige Besuch und der Austausch mit Bewohnern über einen längeren Zeitraum.

Trotzdem freue ich mich, dass durch Ihre Präsenz vor Ort den Asylsuchenden und ihren Bedürfnissen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird und wünsche Ihnen angenehme und erlebnisreiche Tage.

Comment from DM_Flawil - 15. November 2012 at 15:02

Super Sache Mario!
Sicher eine spannende Sichtweise, die Du da erlebst. Freue mich auf weitere Berichte!

Comment from Alice - 25. November 2012 at 19:48

Das ist eine spannende und erlebnisreiche Zeit für dich. Ich finde es super, dass du dieses sicher nicht immer einfache, mitbewohnen auf dich nimmst! Die Berichte sind sehr informativ und für mich auch lerreich! viel Erfolg!

Comment from Alex - 1. Dezember 2012 at 14:59

Wissen Sie, wie viele Ihrer Nachbarn haben Hepatitis, Tuberkulose und AIDS?

Comment from mario - 2. Dezember 2012 at 15:02

@Alex: Nein. Das war ehrlich gesagt nie Thema.

Pingback from Ein Monat im Kajütenbett | Zürcher Presseverein - 28. September 2014 at 21:55

[…] Internet gibt, will er im Asylblog regelmässig über seine Erlebnisse und Bekanntschaften bloggen. Der erste Beitrag beschreibt den Einzug in die […]