Eine Decke ohne Wand und mühsame Pneus

Deutsches Wörterbuch mit den Übersetzungen in Paschtu und Dari.

Mein erstes Wochenende in der Asylunterkunft war ein ruhiges. Ich habe viel geschlafen, gelesen und zwischendurch am Samstagabend ein Konzert fotografiert.

Der Freitagabend war ein wortreicher. Im wahrsten Sinne des Wortes: Ich büffelte mit den Afghanen Wörter. Sie sprechen Paschtu oder Dari und lernen seit ihrer Einreise vor sieben Monaten fleissig Deutsch. Nach einem traditionellen afghanischen Essen (Kado) gingen wir durch den Raum: Decke, Wand, Schrank. Dann, auf dem Tisch: Messer, Gabel, Teller. Das Bett: Matratze, Kissen, Decke.

Hamid schaut verwirrt. «Decke?»

Ja, Decke.

«Decke im Bett? Nicht oben an Wand?»

Ja, die heisst auch Decke, Bettdecke.

«Und wie heisst das?», fragt Hamid und zeigt auf das rote Leintuch.

Leintuch, sage ich. Äh, nein, falsch: Fixleintuch.

«Fissleintuch?»

Fixleintuch.

«Fitsleintuch?»

Fixleintuch.

«Was ist Unterschied von Fixleintuch und Leintuch?»

Das Fixleintuch hat einen Gummi.

«Gummi?»

«Gummi. Wie hinten an deinem Bleistift, zum Radieren, wenn du etwas falsch geschrieben hast.»

«Ah, Gummi! Ich weiss. Aber Gummi nicht bei Auto?»

«Wie meinst du das, beim Auto?»

«Auto mit Rad, auch Gummi.»

Ah, ja, du meinst die Pneus!

«Wie sagst du?»

Pnö.

«Pnu?»

Pnö.

«Pniu?»

Ich muss lachen. Nein: Pnö.

«Pno?»

Rahmatscha muss lachen.

«Pnoi?»

Auch Hamid lacht jetzt. Noch ein Versuch: Pnö.

«Pnö.»

Jaaa! Aber wir schreiben es nicht mit ö, sondern mit e und u.

«Pneu?»

Nein, nur mit e und u schreiben, aber sagen musst du Pnö.

«Pnu. Aaaah. Scheisse Wort.»

Wir lachen.

Rahmatscha fragt mich: «Du auch Kaffee?»

Geschrieben am: 11.11.2012
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«Heute ist eine gute Tag»

Lasha hält sich auf unabhängigen Newsportalen und Youtube auf dem Laufenden.

Es ist 00.45 Uhr, Mittwochnacht. Ich bin gerade nach Hause gekommen. Aus der geplanten Plauderstunde mit meiner ehemaligen Mitbewohnerin sind zuerst zwei, dann drei und schliesslich vier Plauderstunden geworden. Ich habe soeben etwas genommen, das ich sonst unter der Woche nie nehme: Den letzten Zug. Ich ziehe meine Jacke aus. Im Eingang zur Zivilschutzanlage geht das Licht an – jemand ist noch wach.

Lasha aus Georgien liegt auf dem Bett, das Laptop auf dem Bauch. Er strahlt mich an und sagt: «Heute ist eine gute Tag». Er habe mir doch gestern vom umstrittenen Präsidenten erzählt. Heute nun, sagt er, «es ist etwas passiert»: Der ehemalige Minister für Strafvollzug sei festgenommen worden. Er erzählt mir, dass Tausende eingesperrt würden, teils grundlos. Er hat recht: Das Land hat gemäss dem World Prison Population Report die vierthöchste Inhaftierungsrate der Welt – nach den USA, Ruanda und dem Nachbarland Russland. 2011 waren von 100’000 Einwohnern 547 inhaftiert (total 23’995). Zum Vergleich: In der Schweiz waren es 79 (6181).

Lasha sagt, er sei selbst nie im Gefängnis gewesen, habe aber Freunde hinter georgischen Gittern. Er müsse wissen, was in seinem Land geschehe. Auf regierungsunabhängigen Newsportalen und über Youtube hält er sich auf dem Laufenden. Er hofft auf die Wahlen im Frühling, hofft auf Besserung. Doch er weiss: «Opposition keine Chance.» Junge Leute wie er verlassen ihr Heimatland, nach Russland oder Westeuropa. Lasha hat das auch getan. Er war lange unterwegs, kam über die Slowakei, Deutschland, Österreich und Italien in die Schweiz. Er weiss nicht, ob er hier bleiben kann, oder ob er als Dublin-Fall irgendwann ins Erstantragsland Slowenien zurück muss.

Wann der Entscheid kommt, das weiss er nicht – dafür, was er bis dahin tun will: «Schwizerdütsch lernen.»

Geschrieben am: 09.11.2012
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Als erstes bekam ich Hausschuhe angeboten

Seite gestern der Eingang zu meinem Zuhause: Asylunterkunft in Rickenbach TG.

Dienstag, 6. November, sechs Minuten nach neun Uhr: Ich bin eingezogen. Einen Monat lang wohne ich nicht mit meinen zwei Schweizer Kollegen, sondern mit vier Sri Lankern, drei Afghanen und einem Georgier. Einen Monat lang schlafe ich nicht in meinem 160-mal-200-Zentimeter-Bettgestell, sondern in der dritten Etage eines 15-Mann-Kajütenbetts (allerdings nur zu viert).

Ernst Bucher, Leiter des Sozialamts der Gemeinde Rickenbach, drückt mir frisch gewaschene Bettwäsche in die Hände und wünscht mir einen guten Aufenthalt. Von den Asylsuchenden werde ich mit grosser Herzlichkeit aufgenommen. Als erstes erhalte ich Hausschuhe angeboten: Weil meine noch im Rucksack sind, meint Hamid aus Afghanistan, ich solle doch seine nehmen, er habe noch ein zweites Paar. Mit meinem «Danke, das ist sehr lieb, aber…» komme ich nicht weit. Ich werde sie ihm heute mit einem Händedruck zurückgeben.

Am Abend um zehn Uhr kehre ich zurück von der Arbeit. Mit Krishnan aus Sri Lanka schaue ich einige Minuten eines indischen Billig-Action-Films. Die Sprache verstehe ich nicht, die Handlung schon. Die Sri Lanker fragen, ob ich «already had dinner». Ja, sage ich, ich habe länger arbeiten müssen und dort etwas gegessen. «But tomorrow you will eat with us?» Ja, werde ich, wenn ich zeitig fertig werde. Wann wird denn gegessen? «It depends. Maybe 8 or 9 or 10 o’clock», sagt Satish und fragt: «What food do you eat in the evening?» – «It depends.»

Dann, es ist bereits Mitternacht, gibt mir Lasha aus Georgien einen mit Youtube-Videos illustrierten Crashkurs in georgischer Politik. Ich sehe Blutlachen, Maschinengewehre, einen Präsidenten auf Drogen. Keine Gutenachtgeschichte – ich bringe ihm bei, dass ich das sehr wohl sehr interessant finde, aber lieber morgen. Ich melde mich ab. «Guet Nacht – good night guys.»

Geschrieben am: 07.11.2012
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